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Das ist mir gerade alles zu viel…

Aus psychologischer und seelsorgerischer Sicht – Ein Interview mit Hannah Drüner, leitende Psychologin, Regine Lünstroth, Krankenhausseelsorgerin, und Gregor Schalper, leitender Psychologe, über den Umgang mit der aktuellen Fülle von schlechten und besorgniserregenden Ereignissen und Nachrichten.

07.02.2024 | Allgemein
Aus psychologischer und seelsorgerischer Sicht – Ein Interview mit Hannah Drüner, leitende Psychologin, Regine Lünstroth, Krankenhausseelsorgerin, und Gregor Schalper, leitender Psychologe, über den Umgang mit der aktuellen Fülle von schlechten und besorgniserregenden Ereignissen und Nachrichten.

THEO: Wir waren gerade halbwegs aus der dreijährigen Corona-Pandemie raus, da hat Russland die Ukraine überfallen und einen bis heute andauernden Krieg ausgelöst. Im Zuge dessen kam es zu enormen Preissteigerungen, Materialknappheit und der Sorge, ob man es sich noch leisten kann, im Winter die Wohnung ausreichend zu heizen. Die Inflation ist trotz eines leichten Rückgangs immer noch immens hoch, Preissenkungen kaum spürbar. Daneben ist der Rechtsruck in Deutschland erschreckend gewachsen und nun sehen wir auch noch die furchtbaren Bilder aus Nahost, wo ein weiterer Krieg geführt wird, dessen Ende ebenfalls nicht in Sicht ist. Könnt ihr feststellen, dass sich diese Lage verstärkt auch bei unseren Patient:innen bemerkbar macht?

Hannah Drüner: Ja, das sind auf jeden Fall Themen, die sich auch in den Therapien wiederfinden. Mein Eindruck ist, dass besonders der Ausbruch des Ukraine-Kriegs bei vielen Patient:innen im höheren Lebensalter eigene Kriegstraumata reaktiviert hat. Darüber hinaus haben ja die meisten psychischen Krisen, unabhängig von der gestellten Diagnose, mit Ängsten zu tun. Eine unsichere Weltlage verstärkt diese bei vielen weiter.

Gregor Schalper: Gerade Patient:innen mit Angststörungen oder Depression haben häufig Angstspiralen aus denen sie nur schwer einen Ausweg finden. Werden sie nun noch mit realen Sorgen  konfrontiert, steigern sich diese und es entstehen Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Resignation. Man kann hier klar einen Anstieg erkennen. Darüber hinaus sind gerade chronisch erkrankte
Patient:innen häufig finanziell sehr belastet, kommen nun noch mehr Belastungen hinzu, kann es schnell zu einer Verschlechterung des Zustandes kommen.

Mein Eindruck ist, dass Patient:innen grundlegend erschöpfter sind. Manche sind schwerst niedergedrückt, dass sie ihr Leben kaum noch (aus-) halten können.
Regine Lünstroth

Regine Lünstroth: Direkt kommt die politische Weltlage in den Seelsorgegesprächen selten zum Ausdruck. Indirekt entfaltet sie schon ihre Wirkkraft. Manchen ist der lange Atem, den es bis hierher  gebraucht hat, ausgegangen. Mein Eindruck ist, dass Patient:innen grundlegend erschöpfter sind. Manche sind schwerst niedergedrückt, dass sie ihr Leben kaum noch (aus-)halten können. Fragen nach eigener Existenzsicherung mischen sich mit realen und irrealen Ängsten. Wo erlebte Ohnmacht und Hilflosigkeit unverhältnismäßig auf die eigene Person bezogen werden, gewinnen Gefühle von eigener Inkompetenz und Schuldgefühle größeren Raum, und Selbstwert und Lebensmut drohen zu sinken.

 

THEO: Ich muss gestehen, ich würde gern mal wieder etwas positives in den Nachrichten hören. Auch mich als gesunden Menschen überfordern all diese Krisen zunehmend und ich weiß gar nicht, wie
ich die Fülle an Informationen verarbeiten soll. Und so wie mir, geht es aktuell sicher sehr vielen Menschen. Was können wir tun, um unsere seelische Gesundheit zu schützen? Wie können wir adäquat
mit dieser negativen Nachrichten-, bzw. Ereignisflut umgehen? Gibt es dafür bestimmte Strategien?

Hannah Drüner: In der Frage stecken viele verschiedene Aspekte, die in wenigen Sätzen nur schwer beantwortet werden können. Zunächst ist es sicherlich sinnvoll, den eigenen Medienkonsum  achtsam wahrzunehmen. Wenn wir sehr viele Medien zu belastenden Themen konsumieren, kann uns das durchaus überfluten und uns sehr hilflos fühlen lassen, da wir ja meist wenig bis gar keinen
Einfluss auf die Dinge nehmen können, die uns an den Nachrichten bewegen. Daher kann es sinnvoll sein, den eigenen Medienkonsum zu begrenzen. Die meisten meiner Patient:innen geben an, dass sie sich nicht ganz vom Weltgeschehen abschotten wollen, so dass ich oft empfehle, zu einer bestimmten Zeit am Tag ein bestimmtes Medium zur Informationsgewinnung zu nutzen, sich aber den restlichen Tag zu begrenzen und Nachrichten etc. zu meiden. Auch finde ich es wichtig, den Aspekt der Hilflosigkeit genauer zu beleuchten. Uns hilflos zu fühlen ist ein sehr unangenehmes Gefühl und  steht im engen Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Daher finde ich es enorm wichtig, Situationen danach zu analysieren, wo meine Einflussbereiche sind. Kann ich angesichts belastender Ereignisse etwas tun? Kann ich mich engagieren, kann ich spenden? Und kann ich angesichts dessen, was ich nicht beeinflussen kann, mich stattdessen auf die Lebensbereiche konzentrieren, in denen  ich Einfluss nehmen kann. Das betrifft in der Regel das eigene Leben, den eigenen Alltag und den Alltag der Menschen, die uns nah stehen und uns am Herzen liegen. Hier  kann ich mich als wirksam,
helfend und unterstützend erleben. Daher ergibt es unter Umständen auch Sinn, sich ganz bewusst vom Weltgeschehen abzuwenden und die Aufmerksamkeit auf den eigenen Alltag zu richten. Hier  sind auch nicht die großen Veränderungen gemeint, sondern eher die alltäglichen, scheinbar banalen Dinge des Lebens. Ein sogenanntes Positivtagebuch kann helfen, den Aufmerksamkeitsfokus  bewusst zu lenken. Was hat heute gut geklappt? Was konnte ich erledigen/abhaken? Was waren positive Momente mit Mitmenschen? Worüber habe ich mich heute gefreut?

Gregor Schalper:  Therapeutisch ist es sicherlich einfacher möglich, sich mit irrationalen Ängsten auseinanderzusetzen. Reale Existenzängste kann man ja nicht einfach durch Techniken wie  Expositionstraining oder Realitätscheck bearbeiten. Hier bleibt häufig nur Akzeptanz und der Versuch, sich auf positives zu fokussieren. Es ist dabei wichtig, sich auch immer wieder die Dinge vor Augen zu führen, die man noch selbst im Griff hat, bzw. die gut funktionieren. Ich stimme Hannah zu: In psychischen Krisensituationen gilt es häufig, sich vor diesen negativen Nachrichten  abzuschirmen, man kann und sollte sich auch gut überlegen, zu welchem Zeitpunkt man sich mit Nachrichten konfrontieren möchte. Kurz vor dem Schlafengehen, schaut man ja manchmal noch Nachrichten und liegt dann wach, bzw. kann nicht mehr einschlafen. In den Gruppen erkennt man auch immer wieder als großen entlastenden Faktor den Austausch mit anderen Menschen. Man hat dann nicht mehr so das Gefühl, alleine dazustehen.

Uns hilflos zu fühlen ist ein sehr unangenehmes Gefühl und steht im engen Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Daher finde ich es enorm wichtig, Situationen danach zu analysieren, wo meine Einflussbereiche sind.
Hannah Drüner

Regine Lünstroth: „Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann. Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann. Und die Weisheit, das eine vom anderen zu  unterscheiden.“ Dieser Satz, der traditionell Franz von Assisi zugeschrieben wird, kommt mir in den Sinn. Das eigene Maß zu finden, wäre auch aus meiner Sicht ein guter Ansatz, mit der Fülle
umzugehen. Was ich hier und heute halten und tragen kann an Nachrichten, Ereignissen. Worauf ich mit meinem Leben heute Antworten finden kann mit meinen Begabungen, meinen Fähigkeiten, meiner Kraft, meiner Zeit, meinen Möglichkeiten – heute und ganz realitätsbezogen. Nicht mehr und nicht weniger. Ein anderer Ansatz könnte sein, einen der großen Schätze unserer christlichen Tradition zu entdecken: Gottesdienste sind öffentliche Orte, wo Woche für Woche Menschen zusammenkommen, um den Alltag zu unterbrechen. Um innezuhalten, sich zu erden, runterzukommen und zugleich sich nach oben auszurichten, zu hören, wie GOTT ihre Welt gemeint hat. Von Visionen und Träumen hören, von Hoffnung und Vertrauen und sich auf diese Weise mit anderen zusammen immer wieder neu zu orientieren mit Abstand zum Alltag und für den Alltag – das ist Sonntag. Aber auch im Alltag ist Perspektivwechsel wichtig: Sich in Gelassenheit üben und mit anderen immer  wieder im Gespräch sein und bleiben in dem Maß, wie es gut tut. Sich auf diese Weise eine sich immer wieder verändernde Meinung zu erarbeiten, um gegenwärtig einordnen und einschätzen zu können, damit nicht alles groß und diffus bleibt. Und wir selbst in Kontakt mit anderen und im Fluss.

 

THEO: Das Gefühl der Ohnmacht ist in diesen Krisensituationen sehr stark. Als der Krieg in der Ukraine begonnen hat, haben sehr viele Menschen das Bedürfnis gehabt, Hilfe zu leisten. Sie haben  gespendet, Hilfsgüter organisiert, sind zum Teil sogar selbst in die Ukraine gefahren – Hauptsache, etwas tun. Doch auch hier lässt sich feststellen, dass sich eine gewissen Erschöpfung ausbreitet. Müssen wir deswegen ein schlechtes Gewissen haben?

Gregor Schalper: Menschen geraten häufig in Krisen, weil sie sich selbst zurücknehmen, eigene Bedürfnisse zurückstecken, weil sie lieber für andere da sein wollen, bzw. das Gefühl haben, erst wenn es  den Menschen in meiner Umgebung gut geht, habe ich das Recht mich um mich selbst zu kümmern. Der Gedanke, „nur wenn ich selbst einigermaßen zufrieden bin, kann ich andere Menschen unterstützen“, erscheint hier immer wieder als sehr hilfreich. Man sollte sich bewusst machen, dass man besser und vor allem langfristig helfen kann, wenn es einem selbst einigermaßen gut geht.

Regine Lünstroth: Schlechtes Gewissen speist sich immer aus einer von wem auch immer aufgestellten Norm, die ich nicht erfülle, aber eigentlich erfüllen sollte. Da steh ich mit dem Rücken an der Wand. Ich glaube, es ist gut, Größenwahn und Held:innen-Sein abzulegen, aber auch gut, Mutlosigkeit abzulegen, dass ich den Kopf nicht in den Sand stecke und glaube, nichts tun zu können. Mich nicht abschotten in meiner Blase, sondern mich berühren lassen vom Leid und vom Leben anderer. Und zugleich gilt auch hier: Mein Maß finden, was ich hier und heute tun kann mit meiner kleinen  Kraft. Und morgen ist wieder ein Heute. Schritt für Schritt in Bewegung bleiben und in die aus meiner Sicht richtige Richtung unterwegs sein.

Mir kommt Beppo, der Straßenfeger, aus dem Buch „Momo“ von Michael Ende in den Sinn. „Siehst du, Momo“, sagte er dann zum Beispiel, „es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man. Und dann fängt man an, sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf
man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten. Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein. Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“

Diese Einstellung übt jede:n Einzelne:n in Bescheidenheit und Eigensein-dürfen. Das macht mich nicht klein, sondern im Gegenteil, es lässt mich aufrecht gehen, weil ich nicht tun muss, was ich eh nicht kann: die ganze Welt retten, aber tun kann, wo ich denke, da braucht es jetzt mich. Diese Haltung relativiert mich auf gesunde Weise und weist mich in Gemeinschaft: Nur viele können Vieles tragen. Das wirkt unserer Ohnmacht tatsächlich entgegen. „Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge tun, können das Gesicht dieser Welt verändern.“ (Afrikanisches  Sprichwort).

Hannah Drüner: Letztlich entscheiden wir uns ja frei zu unserer Lebensführung und dürfen selber entscheiden, wie viel wir uns in welchen Bereichen engagieren wollen und auch können. Viele  unserer Patient:innen haben ja enorme Belastungsfaktoren im eigenen Leben und gar nicht die Ressourcen, sich über die Anforderungen des eigenen Lebens hinaus zu engagieren. Daraus abgeleitet gilt letztlich für uns alle, erstmal für sich auszuloten, welche Möglichkeiten des Engagements die eigene Belastbarkeit überhaupt zulässt. Komme ich für mich zu dem Schluss, genug Kraft und Ressourcen zu haben, um zu helfen, gibt es sicherlich ein gutes Gefühl, sich zu engagieren, um auch dem zuvor angesprochenen Gefühl der Hilflosigkeit etwas entgegenzusetzen. Aber natürlich ist es auch erlaubt,  für sich festzustellen, dass das eigene Leben ausreichend Herausforderungen bereit hält und sich mit seiner Kraft darauf zu konzentrieren.

 

THEO: Was können wir tun, wenn wir bemerken, dass Angehörige, Freund:innen oder Kolleg:innen keinen Ausweg aus ihren negativen Gedanken finden?

Hannah Drüner: Wie in der Psychotherapie auch ist es meiner Meinung nach zunächst wichtig, erstmal herauszufinden, ob der Ein-druck, den wir von jemandem haben, auch dem entspricht, wie sich diese Person selber empfindet. So kann man z.B. in einem offenen Gespräch klären, ob der oder die Angehörige/Freund:in/Kolleg:in bei sich auch eine Veränderung bemerkt und den Wunsch hat,  etwas zu verändern. Ist dies nicht der Fall, haben wir erfahrungsgemäß auch kaum Möglichkeiten, der Person zu helfen. Sollte die Person selbst jedoch ein Leid empfinden und einen Veränderungswunsch haben, sind viele Unterstützungsmöglichkeiten von einem entlastenden Gespräch unter Freund:innen/Angehörigen/ Kolleg:innen bis hin zu professioneller  Psychotherapeutischer Unterstützung möglich. Diese sollte aber immer auf die Bedarfe desjenigen angepasst sein, der die Hilfe empfängt. Ein undifferenziertes Überhäufen mit   Unterstützungsmöglichkeiten und „guten Ratschlägen“ ist meistens eher kontraproduktiv.

Man sollte sich bewusst machen, dass man besser und vor allem langfristig helfen kann, wenn es einem selbst einigermaßen gut geht.
Gregor Schalper

Gregor Schalper: Das Gespräch mit einer Psychotherapeut:in oder einer Psychiater: in wird oft erst als letzter Ausweg gesehen, nach dem Motto „erst wenn es mir richtig schlecht geht, darf ich mir  professionelle Hilfe suchen“. Das ist ein Irrglaube. Man sollte sich lieber einmal zu früh, als zu spät Unterstützung holen. Ein klärendes Gespräch hilft ja manchmal schon dabei, Dinge wieder klarer zu  sehen, bzw. zu bemerken, was man verändern kann. Leider gibt die Versorgungslandschaft in Berlin nicht unbedingt immer die Möglichkeit dazu. Allerdings sind Psychiater:innen und  Psychotherapeut:innen zu einer Notfallsprechstunde verpflichtet. Hier in der Klinik kann man sich auch an den psychologischen Dienst wenden, wenn man als Mitarbeiter:in das Bedürfnis nach einem
klärenden Gespräch hat.

Regine Lünstroth: Auf jeden Fall ist es gut, mit dem Menschen in Beziehung zu bleiben, wenn es mir möglich ist, ohne dass wir dieselbe Weltsicht teilen müssen. Sie/ ihn nicht in die Wüste schicken und isolieren, sondern mit einem nach Verstehen suchenden Blick in Begegnung gehen. Worum geht es diesem Menschen genau? Wo etwas in uns zutiefst beunruhigt ist, hilft es ja nicht, gegen zu  halten nach dem Motto: „Nun denk doch mal was Positives!“. Sätze wie „Du brauchst keine Angst zu haben!“, zaubern ja – leider – unsere Ängste auch nicht weg. Gerne stehe ich auch als Seelsorgerin  zur Verfügung.

 

THEO: Viele von uns sind Eltern – was können wir unseren Kindern in Bezug auf die Nachrichten zumuten?

Hannah Drüner: Das hängt natürlich sehr vom Alter des Kindes ab. Spätestens ab dem Schulalter bekommen Kinder viele Informationen von Mitschüler:innen und ab dem Jugendalter bei Zugang zu sozialen Medien ja auch über diese Kanäle. Spätestens dann ist es sicher wichtig, die Themen in der Familie aufzugreifen, sich ein Bild darüber zu verschaffen, welche Informationen die Kinder bereits haben und diese in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu stellen. Insgesamt besteht die Herausforderung, denke ich, darin, Kinder nicht mit Inhalten zu überfordern und dafür Sorge zu tragen,
dass keine großen Ängste entstehen, ihnen andererseits aber das Gefühl zu geben, sie mit den Inhalten, die sie mitbekommen, ernst zu nehmen und Themen nicht zu tabuisieren, sondern eine Atmosphäre offener Gesprächskultur in der Familie zu erzeugen.

Gregor Schalper: Mein Sohn ist gerade 3 Jahre und hat noch wenig Verständnis für die Probleme der Welt. Er hatte mich neulich aber bei den Stolpersteinen in unserer Straße gefragt, warum die Menschen Blumen und Kerzen aufstellen. Es fordert einen dann schon, die richtigen Worte zu finden. Leider ist man als Therapeut oft auch  nicht sicher, was der richtige Zeitpunkt für solche Dinge ist bzw. hat auch nicht immer eine Idee für eine gute, altersgerechte Antwort. Ich würde mich dabei auf andere Eltern stützen, so frage ich häufig Hannah um Rat. Der Austausch bringt einem dann ja oft eine klarere Haltung zu vielen Dingen.

Wo etwas in uns zutiefst beunruhigt ist, hilft es ja nicht, gegen zu halten nach dem Motto: „Nun denk doch mal was Positives!“.
Regine Lünstroth

Regine Lünstroth: Es geht ja nicht darum, Kinder weltpolitisch auf ’s Laufende zu bringen. Wo Kinder sich interessieren und fragen, suchen sie Antworten. Wo wir sie ihnen nicht geben, basteln sie  sich selbst etwas zurecht in ihrer Phantasie. Zwei Beispiele fallen mir ein: Wenn wir unsere Kinder schonen wollen und sie nicht mit ins Krankenhaus nehmen, wenn die Oma krank ist, und wenn wir ihnen nicht erzählen, dass die Oma gestorben ist und wir deswegen traurig sind, werden sie sich selbst einen Reim drauf machen, vielleicht so etwas wie: Wenn Menschen alt sind, verschwinden sie einfach. Als ich noch in der Gehörlosenseelsorge gearbeitet habe, hat mir eine junge gehörlose Frau erzählt, dass sie als Kind immer geglaubt hat, ein Pechvogel zu sein. Immer wenn ihre Mutter zur Wohnungstür ging, stand da jemand, der sie besuchen wollte. Wenn sie das als Kind ausprobierte, stand nie jemand da. Und sie war traurig. Erst viel später, als sie größer war und es inzwischen  Lichtklingeln gab, hat sie verstanden, dass ihre Mutter immer zuvor ein Klingeln gehört hatte. Selbstverständlich sollten wir Kinder nicht (über-)fluten mit unseren Sorgen, Ängsten, Analysen… , aber ihnen auf ihre Fragen hin in ihrer Sprache das nächste Puzzleteil geben, damit sie gut in diese unsere Welt hineinwachsen können. Je zarter das Alter des Kindes umso mehr gilt: Antworten auf das,
was gefragt worden ist. Nicht mehr, nicht alles. Das gilt für Kriegsnachrichten genauso wie für alle anderen Themen. Kinder nehmen sich in der Regel das, was sie tragen können – das eigene Maß – und wenden sich dann dem nächsten Interessanten zu. Jugendliche brauchen oft ein Gegenüber, um sich selbst positionieren und orientieren zu können. Da ist es in einer guten Gesprächskultur sinnvoll, auch eigene Position anzubieten und weitere Horizonte aufzumachen.

 

THEO: Angesichts der vielen politischen und wirtschaftlichen Krisen, Bildern von Krieg, Armut und Leid, geht es uns doch verhältnismäßig sehr gut in Deutschland. Ich empfinde es als großes Privileg,  hier geboren zu sein und zu leben. Mein Kind ist sicher, mein Mann muss nicht in den Krieg, wir haben genug zu essen, ein Dach über dem Kopf. Warum macht sich dennoch so viel  Unzufriedenheit  breit? Warum ist es auch angesichts der schrecklichen Bilder aus den Kriegsgebieten offensichtlich so schwer, dankbar und zufrieden zu sein?

Hannah Drüner: Auch diese Frage ist sicherlich nicht mit wenigen Sätzen zu beantworten. Zum einen leben wir in einer Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Gründen nicht auf die Zufriedenheit mit
dem alltäglichen Leben fokussiert. In unserer Leistungsgesellschaft geht es ja weniger darum, mit dem, was ist, zufrieden zu sein, als vielmehr darum, irgendwo hinzustreben, schneller, weiter, höher zu kommen. Der Kapitalismus funktioniert ja auch nur mit einem Gefühl der Unzufriedenheit und des Mangels. Wenn ich mit dem zufrieden bin, was ich habe, habe ich auch kein Interesse an Konsumgütern, so dass die Marktwirtschaft ja darum bemüht ist, uns immer wieder zu suggerieren, dass wir bestimmte Konsumgüter brauchen, um zufrieden sein zu können. Auch in den Nachrichten finden sich ja meist die negativen Informationen, die positiven Ereignisse bleiben oft unberücksichtigt. Selbst in der Psychotherapie ist die Ressourcenorientierung ein eher neues Feld.  Oft entdecken wir uns auch als Helfende dabei, uns fast ausschließlich auf die Schwierigkeiten und Defizite von Patient:innen zu fokussieren und die vorhandenen Ressourcen der Patient:innen viel zu wenig zu
betonen und zu stärken. Darüber hinaus habe ich oft das Gefühl, dass viele Menschen große Angst davor haben, dass ihnen etwas von ihrem Wohlstand oder den Privilegien, die sie genießen,  weggenommen werden könnte. Um dies zu verhindern, scheint es eine – sicher oft unbewusste – Strategie zu geben, sich vor sich selbst und anderen immer wieder zu rechtfertigen, warum
einem dieses oder jenes zustehe oder es nicht zumutbar wäre, auf bestimmte Dinge zu verzichten. All dies steht einer Wertschätzung dessen, wofür man im eigenen Leben dankbar sein kann, sicher im Wege.

Gregor Schalper: Hier kann ich auch nur als Mensch antworten und nicht als Therapeut. Ängste vor Unbekanntem und Veränderungen in der Gesellschaft waren geschichtlich gesehen schon immer Auslöser für Unzufriedenheit und für Radikalisierung. Die Welt wird immer komplexer, es gibt fast nie einfache Antworten für komplexe Probleme. Minderheiten verantwortlich zu machen bzw. nach einer verantwortlichen Ebene zu suchen „die Politiker“, ist dabei oft der einfachere Weg. Man kann auch Dinge nur schwer begreifen, die man selbst nicht erlebt hat. Ist man selbst nie geflohen  der hat einer verfolgten Minderheit angehört, muss man sich die Mühe machen, sich in Andere hineinzuversetzen, dass ist aber viel schwieriger, als die Unzufriedenheit einfach auf Andere zu  übertragen.

Regine Lünstroth: Unzufrieden. Da steckt der Frieden drin, der nicht da ist. Mein privater Frieden, Frieden in unserer Gesellschaft, Frieden in Europa, Frieden in der Welt – das gewichten wir alle verschieden. Die ganze Welt ist nicht im Lot, wie kann ich mich da auf meine Privatglücksinsel zurückziehen?! – sagt die eine. Und weiß sich berufen, unter dem Einsatz des eigenen Lebens Flüchtende aus dem Mittelmeer zu retten. Und der andere sagt: Ich such mein privates Glück. Da ich eh keinen Einfluss nehmen kann auf die schiefe Weltlage, sorge ich für mich. Und irgendwo zwischen diesen  beiden Extremen bewegen wir uns alle und suchen nach der Balance zwischen ICH und WIR, zwischen Privatleben und politischer Teilhabe und Verantwortung für andere. Zufrieden kann ich sein, wo
ich Antwort finde, die für mich heute und hier stimmt und ich dahinter stehe. Zufrieden dann wenigstens mit mir, wenn auch die Unzufriedenheit mit der Weltlage bleibt. Mich einfach abschotten und unberührbar machen, geht, glaube ich, nicht auf Dauer. Mich selbst ausblenden geht auch nicht auf Dauer. Aber wo es für mich stimmig ist, kann ich mein Leben einem WIR unterordnen. Da gibt es viele Vorbilder in der Geschichte. Mir fällt der Pädagoge Janusz Korczack ein, der sich entschieden hat, mit den ihm anvertrauten Kindern ins Vernichtungslager Treblinka zu gehen. Die Kunst der Zufriedenheit im Miteinander liegt jedenfalls darin, dass wir uns auf unseren unterschiedlichen Wegen gegenseitig akzeptieren lernen.

 

THEO: Liebe Hannah, liebe Regine, lieber Gregor, ich danke euch sehr für dieses Interview.