Allgemein

Was wir aus gescheiterten Beziehungen lernen können – Zur Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie

Zwangsmaßnahmen sind eines der kontroversesten Themen der Psychiatrie. Auch wenn sie in Momenten akuter Gefährdung notwendig und ethisch wie auch rechtlich begründbar sind, haben sie ein hohes Schädigungspotenzial für alle Beteiligten. Die Reduktion von Zwang ist folglich von großer Bedeutung. Wenn es dennoch zu einer Zwangsmaßnahme kommt, ist ein verantwortungsvoller und nachhaltiger Umgang mit dieser notwendig. Dazu zählt unter anderem die Nachbesprechung des Geschehenen mit der betroffenen Person.

In Ergänzung zur Ankündigung des Vortrag „Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen – was wir aus gescheiterten Begegnungen lernen können“ veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Beitrag, der bereits 2021 im Tagungsband der Aktion Psychisch Kranke (APK)1 veröffentlicht wurde, an Aktualität aber nichts eingebüßt hat.

Gleichzeitig empfehlen wir zu diesem Thema die Veröffentlichung „Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen – Ein Praxisleitfaden“ von Lieselotte Mahler, Alexandre Wullschleger und Anna Oster, erschienen im Psychiatrie Verlag2.

23.10.2023 | Allgemein

Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen

von Lieselotte Mahler

Zwangsmaßnahmen sind vielleicht das kontroverseste Thema der Psychiatrie. Klar ist, dass sie nicht mehr als alltägliche Behandlungsroutine verstanden werden. Dennoch bleiben Zwangsmaßnahmen eine notwendige Intervention bei fehlenden Alternativen. Im Rahmen des ZVP-Projektes (Vermeidung von Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Hilfesystem), das vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wurde, haben wir deshalb in einem Teilprojekt die Nachbesprechung erfolgter Zwangsmaßnahmen für Patient:innen und Mitarbeiter:innen und deren positive Auswirkungen auf die Entstehung posttraumatischer Belastungsstörungen, das subjektive Erleben von Zwang sowie die therapeutische Beziehung untersucht3.

Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie

Auch wenn Maßnahmen gegen den Willen der Patient:innen in Momenten akuter Gefährdung notwendig erscheinen und ethisch wie auch rechtlich begründet werden können, darf deren Schädigungspotenzial nicht außer Acht gelassen werden. Zwangsmaßnahmen sind für die Betroffenen mit erheblichen psychischen und physischen Konsequenzen verbunden4: Neben möglichen körperlichen Schädigungen (z.B. Knochen- und Weichteilverletzungen; im schlimmsten Fall Tod durch Herz- Kreislauf-Stillstand, Strangulation oder Lungenembolie5 gehen sie mit Emotionen wie Wut, Ärger, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit einher6. Das Erleben einer Zwangsmaßnahme löst enormen Stress bei den Betroffenen aus, hat einen negativen Einfluss auf die Behandlungszufriedenheit sowie die therapeutische Beziehung und führt zu einer geringeren Zustimmung zu den Therapieangeboten7 sowie einer höheren Wiederaufnahmerate8.

Zwangsmaßnahmen können zu posttraumatischen Symptomen führen. Dies ist besonders bedeutsam vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz von Trauma und Missbrauchserfahrung von stationären psychiatrischen Patienten und Patientinnen. Zum Beispiel zeigen sich bei Menschen, die die Diagnose hat einer paranoiden Schizophrenie bekommen haben, im stationären Aufenthalt bei Frauen über 50%, bei Männern über 30% schwere Traumatisierungen im Kinder- und Jugendalter. Wir müssen da viel sensibler, traumasensibel hinschauen, unabhängig, aber natürlich gerade im Rahmen von Zwang. Denn wir wissen, dass es zu einem Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei den Menschen, die Zwangsmaßnahmen erfahren haben, kommen kann9.

Auch aufseiten der Mitarbeitenden hat die Durchführung von Zwangsmaßnahmen zahlreiche und schwerwiegende Folgen. Zusammen mit Gewalt und Aggressionen gelten sie als stärkster Belastungsfaktor und bergen ein hohes Risiko für Folgeschäden10. Die Durchführung von Zwangsmaßnahmen wird von Mitarbeitenden überwiegend mit negativen Emotionen wie Schuld, Frustration und Hilflosigkeit assoziiert11. Auch sie können zum Teil körperliche Verletzungen erleiden. Folglich tragen Zwangsmaßnahmen zu Fehlzeiten, Frühberentungen und frühem Berufsausstieg bei12. Schließlich laufen Zwangsmaßnahmen dem therapeutischen Selbstverständnis der psychiatrisch Tätigen zuwider13.

Was also rechtfertigt in Anbetracht der schwerwiegenden Folgen den Einsatz von Zwangsmaßnahmen? Zunächst muss eine Aufhebung der Einwilligungsfähigkeit vorliegen ebenso wie akute Eigen- oder Fremdgefährdung. Diese Kriterien sind von außen erst mal nicht beeinflussbar. Darüber hinaus müssen Zwangsmaßnahmen alternativlos sein. Die Alternativlosigkeit ist die Variable, an der wir ansetzen können. Unsere Aufgabe muss daher unbedingt sein, Alternativen zu Zwangsmaßnahmen zu finden – innerhalb sowie außerhalb der Psychiatrie.

Ursachen und Entscheidungsfindung für Zwang

Wie kommt es überhaupt zur Entscheidungsfindung über Zwangsmaßnahmen? Das Personal sieht hier meist die Psychopathologie als den entscheidenden Faktor für Aggressionen. Auf Seite der Patienten und Patientinnen gelten Umweltfaktoren, wie Regeln, Kommunikation mit Personal als entscheidend. Insgesamt lässt sich zeigen, dass Personal-, Patienten- sowie Organisationsfaktoren alle eine Rolle im Entscheidungsfindungsprozess über Zwangsmaßnahmen spielen.
Studien zeigen, dass es dramatische Variationen in der Handhabung von Zwangsmaßnahmen gibt, unabhängig von den Merkmalen der betroffenen Patienten und Patientinnen14.

Das Weddinger Modell

Die Reduktion von Zwang ist aufgrund des Schädigungspotenzials sowie der Unvereinbarkeit mit der therapeutischen Haltung von großer Bedeutung. 2010 wurde in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig- Krankenhaus (PUK-SHK) ein neues Recovery-orientiertes Behandlungskonzept, das Weddinger Modell, entwickelt und implementiert. Das Weddinger Modell zeigt, dass konsequente Anpassungen der Klinikstrukturen sowie eine Recovery-orientierte Haltung der Mitarbeitenden zu einer umfassenden Verbesserung der Behandlung15 und dadurch zu einer Reduktion der Zwangsmaßnahmen auf ein absolutes Minimum führen16. Zwang kann minimiert werden, „ohne sich der Verantwortung für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zu entziehen und ohne ihnen die Verantwortung für sich selbst abzusprechen“17.
Transparente Entscheidungsfindungsprozesse, trialogische Kommunikation und individualisierte Therapiepläne sind Grundbausteine des Weddinger Modells und dienen insbesondere der Beziehungsförderung. Starre Vorgaben werden durch individuelle und situationsadäquate Regeln ersetzt, sodass die Patient:innen vor allem in der Aufnahmesituation durch die Orientierung des Teams an ihren Bedürfnissen in Ruhe ankommen und Vertrauen in das multiprofessionelle Team entwickeln können18. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, sodass die Risiko- und Verantwortungsübernahme sinnvoll auf alle Beteiligten verteilt wird. Dies ist wichtig, da trotz konsequenter Veränderung der Strukturen und Haltung, Eskalationen und damit einhergehende Zwangsmaßnahmen nicht gänzlich vermieden werden können. Gerade die Aufnahmesituation und die ersten 24 Stunden der Behandlung bergen ein besonderes Risiko für Gewalt und Zwang19.

Leitfadengestützte Nachbesprechung im Weddinger Modell

Wenn es dennoch zu einer Zwangsmaßnahme kommt, ist ein verantwortungsvoller und nachhaltiger Umgang mit dieser notwendig. Dazu zählt unter anderem die Nachbesprechung des Geschehenen mit der betroffenen Person. Studien zeigen, dass die Nachbesprechung erfolgter Zwangsmaßnahmen von Patient:innen gewünscht ist und positiv bewertet wird20. Obwohl die Nachbesprechung von verschiedenen Fachverbänden empfohlen wird21 und in vielen Bundesländern bereits rechtlich vorgeschrieben ist, wird sie in der Praxis nicht regelhaft durchgeführt. Es besteht kein Konsens über Rahmen und Inhalt der Nachbesprechung.
Um diesem Umstand zu begegnen und ein leicht anwendbares und praxisorientiertes Werkzeug zur Verfügung zu stellen, wurde im Rahmen des Weddinger Modells in einer multiprofessionellen Arbeitsgruppe in der PUK-SHK ein Leitfaden zur standardisierten Nachbesprechung entwickelt und evaluiert22.

Rahmen der Nachbesprechung

Für diese Art der Nachbesprechung ist ein besonderes Setting vorgesehen, das sowohl in der Pilotstudie zum Leitfaden23 als auch in der täglichen Praxis von allen Beteiligten als sehr geeignet bewertet wurde. Neben der behandelten Person nimmt an dem Gespräch ein Teammitglied teil, das bei der Zwangsmaßnahme anwesend und/oder an dem Entscheidungsfindungsprozess aktiv beteiligt war. Die Moderation übernimmt ein Teammitglied, das nicht beteiligt war. Die Patientin oder der Patient kann außerdem eine Begleitperson aus dem privaten Umfeld oder aus dem Behandlungsteam einladen. Wichtig ist, dass nur eine an der Zwangsmaßnahme beteiligte Fachkraft an der Nachbesprechung teilnimmt, um die Ausgewogenheit des Gesprächs nicht zu beeinträchtigen. Die Nachbesprechung soll als gesondertes Gespräch, nach Möglichkeit in einem neutralen Raum (außerhalb der Station), stattfinden. Es dauert ca. 30–45 Minuten. Die neutrale Moderation sorgt dafür, dass alle wichtigen im Leitfaden vorgesehenen Aspekte angesprochen werden und allen Beteiligten Raum geboten wird, um vertrauensvoll über das Erlebte zu sprechen24.
Zwar wird in nahezu allen Leitlinien empfohlen, die Nachbesprechung unmittelbar nach der Zwangsmaßnahme durchzuführen, praktische Erfahrung und wissenschaftliche Evaluationen weisen aber darauf hin, dass die meisten Patient:innen erst zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage sind, das Gesprächsangebot in Anspruch zu nehmen25. Ein zu früher Zeitpunkt nach der Zwangsmaßnahme kann aufgrund des noch starken emotionalen Involviertseins schwierig sein, ein sehr später birgt dafür die Gefahr, dass die Geschehnisse nicht mehr so präsent sind. Letztlich gibt es keinen „richtigen“ Zeitpunkt. Wichtig ist, dass das Angebot zur Nachbesprechung unmittelbar gemacht wird und während sowie über den stationären Aufenthalt hinaus wiederholt wird26.

Inhalte der Nachbesprechung

In der Nachbesprechung werden beiden Beteiligten abwechselnd dieselben Fragen gestellt. Es ist von besonderer Bedeutung, dass das Gespräch ausgeglichen ist und Patient*in wie auch Mitarbeitende*r die Möglichkeit bekommen, ihre Perspektive darzustellen. Es wird z.B. gefragt: „Was glauben Sie, hätte die Zwangsmaßnahme verhindern können?“ „Was hätte das Personal bzw. was hätte der oder die Patient*in anders machen können?“ Es wird auch gefragt, ob der*die Patient*in im Nachhinein nachvollziehen kann, warum die Entscheidung die Durchführung einer Zwangsmaßnahme getroffen wurde. „Ist es für Sie verständlich warum sich die MitarbeiterInnen hilflos, bedroht, verängstigt gefühlt haben?“ Auf der Seite der*des Mitarbeitenden wird wiederum auch gefragt, ob die Entscheidung für die Durchführung der Zwangsmaßnahme (weiterhin) nachvollziehbar ist? „Ist für Sie als MitarbeiterIn verständlich geworden, warum der Patient angespannt, aggressiv, regiert hat?“ Damit werden einzelne Aspekte der eskalierten Situation und die unterschiedlichen Perspektiven sozusagen unter dem Mikroskop angeschaut27.
Wichtig ist letztlich auch, ob man sich eine weitere Zusammenarbeit vorstellen kann. Die Nachbesprechung sollte auch eine Perspektive eröffnen und darauf vorbereiten, Besprochenes in einen Krisenplan beziehungsweise einer Behandlungsvereinbarung festzuhalten.

Hilfreicher Erfahrungsaustausch

Mitarbeitende wirken auf Patient:innen oft als unverletzlicher Teil der Institution. Ihr routinierter Umgang etwa mit einer Fixierung kann schnell den Eindruck erwecken, die Krise der Patient:innen sei für sie ein alltägliches Geschehen. Zunächst mag es für Mitarbeitende ungewohnt sein, letztlich aber äußerst bereichernd und kompetenzerweiternd, von den Betroffenen eine Rückmeldung über die eigene Wirkung im Rahmen einer Akutsituation zu bekommen. Diese können etwa formulieren, dass Mitarbeitende kompromisslos, aggressiv und bedrohlich auf sie gewirkt haben oder aber empathisch auf ihre Bedürfnisse eingegangen sind, authentisch und kompetent wirkten. Mitarbeitende haben die Gelegenheit zu erfahren, ob die getroffenen Entscheidungen für die Patient:innen nachvollziehbar, die angebotenen Alternativen hilfreich und ihre Rechte und Bedürfnisse genügend geachtet wurden28. Oft haben auch im Hintergrund ablaufende Geschehnisse eine prägende Wirkung auf die von den Patient:innen erlebte Atmosphäre. Ohne es zu wollen, kann ein als unerheblich empfundenes kurzes Gespräch zwischen Mitarbeitenden auf die Betroffenen respektlos wirken: „Es waren sehr viele Mitarbeiter da, als ich fixiert wurde. Manche standen einfach nur dabei oder haben sogar fröhlich miteinander geredet und irgendjemand hat gelacht. Das hat sich schlimm angefühlt, als wäre das ganz normal, dass ich an ein Bett gebunden bin. Aber das ist nicht normal.“ Eine andere Patientin berichtet in der Nachbesprechung: „Ich war mir absolut sicher, dass die mir schaden wollen. Dass die mich umbringen. Ich habe mich gewehrt, aber ich war schon am Bett fixiert und konnte mich kaum bewegen. Und dann kamen sie mit einer Spritze an, haben mir was in den Arm gespritzt und gesagt ‚Keine Sorge, es ist gleich vorbei.‘ Das war die Todesspritze für mich, ich war mir sicher, jetzt würde ich sterben.“ Solche Rückmeldungen sollen die Mitarbeitenden keinesfalls für ihr vergangenes Verhalten verurteilen, vielmehr geht es darum, für zukünftige Situationen zu sensibilisieren, sich in die Perspektive der betroffenen Person hineinzuversetzen und bessere Wege zur Kommunikation zu finden29.

Umgekehrt ist es auch für Patient:innen eine wichtige Erfahrung, ihre Wirkung während der Krisensituation gespiegelt zu bekommen. Häufig erleben sie Zwang als willkürlich, insbesondere wenn sie sich selbst nicht als aggressiv oder bedrohlich wahrgenommen haben. Das Verstehen der bedrohlichen Wirkung ihres Verhaltens kann die Entscheidung des Teams zur Zwangsmaßnahme nachvollziehbarer machen. Häufig ist die Aggression nur die Reaktion auf eine erlebte Bedrohung und die zugrunde liegende Emotion ist Angst. Dass die Professionalität des Personals eine emotionale Reaktion auf das Verhalten der Patient:innen nicht ausschließt, ist ihnen oft gar nicht bewusst. Es kann deshalb in der Akutsituation selbst wie auch in der Nachbesprechung sehr bereichernd sein, wenn Mitarbeitende Gefühle wie Angst und Unsicherheit konkret benennen. Diese Emotionalität ermöglicht letztlich, eine Beziehung herzustellen, sich verletzlich zu zeigen und damit nahbar zu machen. Wird die Emotionalität benannt, entweder bereits in der Krisensituation, oder spätestens in der Nachbesprechung, führt das auf beiden Seiten zu mehr Verständnis. Mitarbeitende sind oft besorgt, dass der Ausdruck von Emotionen als fehlende Professionalität verstanden wird. Dabei kann gerade Emotionalität und Verletzlichkeit eine enorme Kompetenz sein. Entscheidend ist, dass Mitarbeitende einerseits ihre Gefühle wahrnehmen und verbalisieren, andererseits aber die Emotionalität regulieren, sodass ihre Entscheidungen und Handlungen fachlich begründet bleiben. Während die Fachkraft also äußert, dass die Patientin oder der Patient ihr gerade Angst macht, bleibt sie in ihrem Handeln ruhig und umsichtig30.

Über das retrospektive Verstehen der anderen Perspektive hinaus hat die Nachbesprechung vor allem auch Auswirkungen im Hinblick auf zukünftige Zwangsmaßnahmen. Das gilt einerseits für den Einzelfall, in dem die Nachbesprechung ein besseres Verstehen auf beiden Seiten und damit zukünftig eine bessere Zusammenarbeit in Krisensituationen ermöglicht. Die Nachbesprechungen haben aber darüber hinaus einen sensibilisierenden Effekt auf die Mitarbeitende, die sich ihrer Wirkung in zukünftigen Situationen besser bewusst sind und aus vorangegangenen Nachbesprechungen Handlungsalternativen mitbringen.

Häufig haben alle Beteiligten ähnliche Gefühle wie Schuld, Scham, Wut und Hilflosigkeit bezüglich der eskalierten Situation31 und tragen das Risiko einer traumatischen Verarbeitung des Geschehenen. Nicht selten kommt es zu einer Sprachlosigkeit und einer Brüchigkeit der (therapeutischen) Beziehungen. In diesem Zusammenhang spielt das gemeinsame Reflektieren und Nachbesprechen des Erlebten in einem ausgewogenen, moderierten Rahmen eine Schlüsselrolle. Das gegenseitige Verstehen der jeweils anderen Perspektive kann eine Klärung ermöglichen und die Symmetrie in der Beziehung wiederherstellen32.

Auswirkungen der Nachbesprechung

Im Rahmen der BMG-Studie haben wir die positiven Auswirkungen der leitfadengestützten Nachbesprechung umfassend untersucht. Dazu wurden in sechs Kliniken mit Versorgungsauftrag in Berlin die Mitarbeitenden geschult, um die leitfadengestützte Nachbesprechung durchführen zu können. Nach allen stattgefundenen Zwangsmaßnahmen in diesen Kliniken wurden die betroffenen Patient:innen in Interventions- oder Kontrollgruppe randomisiert, das heißt, sie erhielten entweder die leitfadengestützte Nachbesprechung oder die unstandardisierte Form der Nachbesprechung, die bisher auf dieser Station durchgeführt wurde.

Wir konnten in dieser Studie zeigen, dass die standardisierte Nachbesprechung dazu führt, dass das subjektive Erleben von Zwang durch die Nachbesprechung signifikant geringer ist33, die therapeutische Beziehung gestärkt wird und dass die Patient:innen signifikant weniger PTBS-Symptome infolge der Zwangsmaßnahme entwickeln34. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass in der Studienstichprobe – unabhängig von der Art der Nachbesprechung – mehr als 70 der Patient:innen die Zwangsmaßnahme als extrem belastend erlebt haben. Dieses Stresserleben kann die Nachbesprechung nicht mindern. Die leitfadengestützte Nachbesprechung trägt aber wesentlich dazu bei, dass sich aus diesem Stresserleben keine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, sondern die traumatisierende Zwangsmaßnahme möglichst gut verarbeitet werden kann35.

Aus der qualitativen Befragung ergab sich, dass Patient:innen, die keine standardisierte Nachbesprechung erfahren haben, die Zwangsmaßnahmen mehr als Strafe, weniger als Fürsorge werteten. Insgesamt gaben sie der Gesamtbehandlung eine schlechtere Bewertung. Patient:innen, die die standardisierte Nachbesprechung hatten, sahen hingegen eher führsorgliche Gründe für die Zwangsmaßnahme und bewerteten auch insgesamt die Behandlung positiver36.

Fazit

Insgesamt können wir die leitfadengestützten Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen empfehlen. Sie sollte in der klinischen Routine implementiert werden und die Nachbesprechungen sollten regelhaft und möglichst leitfadengestützt durchgeführt werden.
Mit der vorgestellten Strukturierung und dem spezifischen Setting hat die Nachbesprechung einen hohen psychotherapeutischen Wert. Wichtig zu betonen ist, dass sie andere Formen der Nachbesprechung – z.B. innerhalb des Teams, mit der Patientin im Visitengespräch – nicht ersetzt, sondern ergänzt.
Der richtige Zeitpunkt der Nachbesprechung muss individuell festgelegt werden. Die Entscheidung für den passenden Zeitpunkt kann nur bei dem/der Patient:in liegen.
Die Implementierung der Nachbesprechung sollte als Konzept von der Klinik und Stationsleitung unterstützt werden. Es muss eine Schulung geben für Mitarbeitende und es sollte auch klar sein, wie die Inhalte dann in die Behandlungsvereinbarung einfließen.
Durchführung der Nachbesprechung und die Dokumentation ihres Inhaltes muss in die übliche Dokumentation integriert werden.
Auch die PreVCo-Studie zur Implementierung der S3-Leitlinie zur Verhinderung von Aggression und Zwang empfiehlt die Einführung des Weddinger Modells sowie die standardisierte Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen.

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Referenzen:

1 Tagungsband der Aktion Psychisch Kranke (APK) der APK-Tagung vom 06. – 08.09.2021 in Bremen
2 Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen – Psychiatrie Verlag (psychiatrie-verlag.de)
3 Mahler u.a. 2021
4 Hotzy u.a. 2020
5 Kersting 2018
6 Armgardt u.a. 2013
7 Rakhmatullina u.a. 2013; Theodoridou u.a. 2012; Mielau u.a. 2018
8 Montemagni u.a. 2011; van der Post u.a. 2014
9 Mahler u.a. 2021, Wullschleger u.a. 2021a
10 Leiter/Harvie 1996; Yarovitsky/ Tabak 2009
11 Bonner u.a. 2002; Rakhmatullina u.a. 2013
12 Edlinger u.a. 2018; Rakhmatullina u.a. 2013
13 Emerson/Pollner 1976
14 Mahler u.a. 2021
15 Mahler u.a. 2014; Mahler u.a. 2019
16 Czernin u.a. 2020; Czernin 2021
17 Mahler u.a. 2014
18 Mahler u.a. 2021
19 Cole u.a. 2020
20 Mielau u.a. 2018; Wullschleger u.a. 2019
21 DGPPN 2018; SAMW 2018
22 Mahler u.a. 2017, Mahler u.a. 2021
23 Wullschleger u.a. 2019
24 Mahler u.a. 2021
25 Wullschleger u.a. 2019
26 Mahler u.a. 2021
27 Mahler u.a. 2021
28 vgl. Mahler u.a. 2014
29 Mahler u.a. 2021
30 Mahler u.a. 2021
31 Mahler u.a. 2014
32 Bock 2021, Mahler u.a. 2021
33 Wullschleger u.a. 2021b
34 Wullschleger u.a. 2021a
35 Wullschleger u.a. 2021a
36 Mahler u.a. 2021