Interview

Darf ich bitten? Tanztherapie in der Gerontopsychiatrie

Ein Interview mit Dr. Theresa Bauer-Hoheisel, Oberärztin auf der Gerontopsychiatrischen Station (5), und Enrique Cantillo, Tanztherapeut, über die Behandlung gerontopsychiatrischer Patient:innen und das Angebot der Tanztherapie.

31.10.2023 | Interview

Auf der Gerontopsychiatrischen Station empfängt mich der Geruch nach frischgebackenen Waffeln, es herrscht eine losgelöste, fröhliche Stimmung im Team der Station 5 und unter den Patient:innen, von denen viele in Bewegung sind und erwartungsfroh den bunt dekorierten Aufenthaltsraum ansteuern. Später wird der Stationsarzt zur Gitarre greifen, Frühlingsgedichte werden vorgetragen, es werden Wünsche nach Schlagerhits, aber auch den Beatles und den Rolling Stones lauter, es wird getanzt, gelacht, Maibowle getrunken, die Oberärztin spielt ein Stück auf dem Cello – eher kein Setting, das normalerweise auf einer psychiatrischen Station zu erwarten ist.
Mit einem „Tanz in den Mai“ hat das gesamte Team der gerontopsychiatrischen Station ihre Reihe der jahreszeitlichen Feste im Frühjahr fortgeführt, die Enrique Cantillo, Tanztherapeut auf der Station, mit einem „Hutball“ im Herbst begonnen hat und dem sich eine Weihnachtsfeier im Winter anschloss.

Dr. Theresa Bauer-Hoheisel, Oberärztin auf der Station sagt nach dem Frühlingsfest: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es für alle Patient:innen eine unglaubliche Bereicherung war, von der sie tagelang profitiert haben. Es ist einfach etwas urmenschliches, die Jahreszeiten zu erleben und zu feiern. Und gerade der Frühling setzt Energie frei, die Natur erwacht…das hat noch einige Tage nachgewirkt und war eine sehr schöne Erfahrung. Uns wurde nach allen Festen zurückgemeldet – das große Sommerfest der Klinik und den Weihnachtsmarkt eingeschlossen, dass sich die Patient:innen dadurch sehr wertgeschätzt gefühlt haben. Allein, weil wir so etwas für sie organisieren. Es war beeindruckend, was das zum Teil für eine Leichtigkeit und ein Strahlen in die Augen vieler gezaubert hat.“

Wir haben dieses Ereignis zum Anlass genommen, in einem Interview mit Dr. Theresa Bauer-Hoheisel und Enrique Cantillo über die Behandlung gerontopsychiatrischer Patient:innen zu sprechen und hier insbesondere die Tanztherapie in den Blick zu nehmen.

THEO: Die Psychiatrische Abteilung der Kliniken im TWW hält seit vielen Jahren eine Gerontopsychiatrische Station vor. Warum ist es so sinnvoll, ältere psychisch erkrankte Patient:innen auf einer speziellen Station unterzubringen und sie nicht auf den anderen psychiatrischen Stationen zu behandeln?

Theresa Bauer-Hoheisel: Wir sprechen von einem gerontopsychiatrischen Behandlungssetting, wenn Patient:innen, die älter 60 oder 65 Jahre alt sind, zu uns in die Behandlung kommen. Durch deren altersspezifische Situation ergibt sich auch eine themenspezifische Situation, das heißt sowohl in den Therapien, in den Gesprächen, aber auch in den verschiedenen Spezialtherapien, da sich die Patient:innen in der einer Lebensphase befinden, die bestimmte Themen mit sich bringen. Da geht es um das Ende der Berufstätigkeit, den Verlust eines Partners oder einer Partnerin, Freundschaften, zunehmende körperliche Einschränkungen, aber möglicherweise auch nochmal um einen Umzug in eine andere Wohnsituation. Und das sind natürlich ganz spezifische Themen, die eben in diesem Lebensabschnitt vorhanden sind. Sind gerontopsychiatrische Patient:innen auf einer gemischten Station mit jüngeren, dann sind sie häufig in der Minderzahl und gerade in den Gesprächen und in den Gruppen gehen ihre Themen tendenziell manchmal unter. Gerontopsychiatrische Patient:innen müssen sich dann damit auseinandersetzen, wie es den 20- oder 30-Jährigen geht, die gerade eine Familie gründen oder ins Berufsleben starten. Natürlich kann das mitunter auch mal belebend sein, wenn dann da jemand mit ganz viel Lebenserwartung sitzt und eine Rückmeldung gibt, aber wir sehen häufig, dass Themen, die gerontopsychiatrische Patient:innen beschäftigen, nochmal ganz anders verortet sind und deshalb erachten wir es als sinnvoll, ihnen auch eine spezifische Behandlung und Therapie anzubieten.

THEO: Gibt es besondere Herausforderungen bei der Behandlung von gerontopsychiatrischen Patient:innen?

Theresa Bauer-Hoheisel: Ja, auf jeden Fall und deshalb ist es auch so wichtig, dass es dieses gerontopsychiatrische Angebot gibt. Da sind zum einen die altersbedingten körperlichen Einschränkungen, gewisse körperliche Funktionen funktionieren oft im Alter nicht mehr so, wie wir das gewohnt sind. Dazu zählen Sinnesfunktionen wie das Hören und Sehen, aber auch das Bewegen – und darauf braucht es eine Antwort. Häufig hören wir, dass ältere Patient:innen die Rückmeldung bekommen, sie wären nicht therapie- oder gruppenfähig. Und wir sagen dann, dann müssen wir die Gruppe eben so umgestalten, dass sie trotzdem daran teilnehmen können.

THEO: Welches sind denn die typischen, bzw. häufig auftretenden psychischen/psychiatrischen Erkrankungen der Patient:innen auf der Gerontopsychiatrischen Station?

Theresa Bauer-Hoheisel: Spricht man von Gerontopsychiatrie, denken die meisten zunächst immer an Demenz und Delir. Diesen Anteil gibt es auf jeden Fall, aber es ist eine ganz große Bandbreite an Krankheitsbildern und wir behandeln eigentlich das gesamte Spektrum der Psychiatrie. Angefangen bei den affektiven Störungen mit Depressionen oder Manien, dann die große Gruppe der Angsterkrankungen, die insbesondere während der Coronapandemie enorm zugenommen hat, aber daneben gibt es auch die Psychoseerkrankungen. Das vergisst man manchmal so ein bisschen. Heutzutage ist die medizinische Versorgung so gut, dass viele an einer Psychose Erkrankte, die diese Krankheit bereits seit dem frühen Erwachsenenalter haben, mittlerweile aber auch 80 Jahre oder älter sind. Die Psychoseerkrankung bleibt auch im Alter und hier besteht die Herausforderung, diese Patient:innen in einem gerontopsychiatrischen Bereich zu behandeln. Aber es gibt auch die Alterspsychosen, die erst im höheren Alter auftreten. Dann gibt es die Suchterkrankungen, die auch weitverbreitet sind, vor allem die Sucht nach Schmerz- und Beruhigungsmitteln, oder auch nach Alkohol. Sowie die Sucht im Bereich digitaler Medien – auch das kommt langsam. Das besondere an der gemischten Gerontopsychiatrischen Station besteht darin, dass wir die gerade genannten Krankheiten behandeln, aber zeitgleich auch Patient:innen mit Demenz und Delir. Und das ist manchmal schwierig, weil gerade depressiv Erkrankte oder Patienten mit Angsterkrankungen große Sorge haben, an einer Demenz zu erkranken. Und dann kommen sie auf unsere Station und werden damit konfrontiert. Sie denken bei Aufnahme oft, sie sind auf einer Demenzstation, hier müssen wir ganz viel aufklären. Das lässt sich therapeutisch aber auch ganz gut nutzen, in dem wir sagen, es gibt große Unterschiede zwischen denen, die Angst vor einer Demenz haben und denen, die an einer Demenz erkrankt sind. Damit kann man in einer Psychotherapie gut aufgreifen.

THEO: Um an dieser Stelle den Blick auf die Tanztherapie zu lenken: Wie kann diese als Spezialtherapie aus ärztlicher Sicht positiv auf den Gesundheitszustand der gerontopsychiatrischen Patient:innen einwirken? Gibt es spezielle Erkrankungen, bei deren Behandlung diese Therapieform bevorzugt eingesetzt wird?

Theresa Bauer-Hoheisel: Meiner Meinung nach können die allermeisten gerontopsychiatrischen Patient:innen von einer Tanztherapie profitieren. Und nichtsdestotrotz ist es so, dass Erkrankungen aus dem neuropsychiatrischen Spektrum nochmal besonders davon profitieren. Wir sprechen hier von Alzheimer-Demenzerkrankungen, Parkinson-Demenzerkrankungen, aber auch Patient:innen, die nach einem Schlaganfall psychiatrische-neurologische Beschwerden oder Einschränkungen haben. Man hat herausgefunden, dass durch die Tanztherapie Bewegungsmuster, die nicht mehr so gut im Alltag funktionieren, wieder reaktiviert werden können. Und das ist natürlich eine tolle Erfahrung für die Patient:innen. Auf der anderen Seite ist es so, dass gerade bei affektiv erkrankten Patient:innen, also bei einer Depression, einer Manie oder Angsterkrankung, es häufig dazu kommt, dass der Tanz nochmal eine andere Ausdrucksform bietet. Situationen oder auch Gefühle, die nicht in Worte gefasst werden können, finden ihren Ausdruck dann im Tanz. Das ist für uns diagnostisch aber auch therapeutisch nochmal ein ganz wertvolles Element. Seit einiger Zeit haben wir die Tanztherapie neu auf Station 5 etabliert und es ist eine ganz große Bereicherung für die Station.

THEO: Enrique, du bist Tanztherapeut, unter anderem auf der Gerontopsychiatrischen Station. Tanztherapie in der Psychiatrie – bitte gib uns einen Einblick in deine Arbeit. Was dürfen wir uns darunter vorstellen? Wie verläuft die Therapie und in welchen Bereichen wird sie häufig eingesetzt?

Enrique Cantillo: Tanztherapie ist eine kreative Psychotherapie auf der Grundlage der Körperwahrnehmung, der Bewegung und des Tanzes. Sie reflektiert quasi die Gespräche. Ein weiteres Element, das ich in meiner Arbeit nutze, ist das Spiel in der Bewegung. Ich nutze aber auch Materialien wie Fotos, Steine, Federn, Seidentücher und einige andere. Die nutze ich beispielsweise bei bestimmten Themen wie Rhythmus, oder ich frage, was ist leicht, was ist sanft. Daneben nutze ich Fotos und Postkarten als Gedächtnistraining, aber auch als Anregung.

THEO: …Gedächtnistraining integrierst du auch in die Tanztherapie?

Enrique Cantillo: Ich arbeite hier in der Klinik auf den offenen Stationen, in der Gerontopsychiatrie und auch auf den Akutstationen. In der Gerontopsychiatrie gebe ich zwei Gruppen, davon ist eine Gruppe für Demenzpatient:innen. Und ja, ich stelle Fragen, vor allem in der Demenzgruppe. Was haben die Patient:innen früher gern gehört? Was haben sie gern gegessen? Können sie sich an schöne Reisen erinnern? Und hier geht es auch um ein sinnliches Erfahren, mit allen Sinnen – hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen – genießen, etwas, das wir in den jahreszeitlichen Festen aufgreifen und fortführen. Mit dem Geruch nach gutem Essen, Musik, Bildern, Klängen. Im besten Fall nehmen die Patient:innen etwas von der Stimmung und dem Erlebten mit in den Alltag, vor allem diejenigen, denen die Kraft abhandengekommen ist.

THEO: Wie gestaltest du deine Arbeit als Tanztherapeut in der Psychiatrie? Was sind die Ziele der Tanztherapie? Einiges davon ist ja bereits angeklungen, z.B. das Gedächtnistraining…

Enrique Cantillo: Tanztherapie hat viel mit Körperwahrnehmung zu tun, das ist sehr wichtig, ich arbeite aber relativ flexibel und stelle mich auf die Gruppe ein, in der ich gerade bin. In der Gerontopsychiatrie starte ich manchmal mit einem Luftballon, eine leichte Art und Weise, die Patient:innen wacher werden zu lassen und ihnen Lust auf Bewegung zu machen, darauf reagieren die Patient:innen sehr gut. Ich schaue immer, was ist da, emotional und körperlich, und wie ich sie erreichen kann. Und ich nutze, was da ist, ich nehme das ernst, was sie erzählen, das ist der Zugang, den ich habe. Bei nicht dementen Patient:innen arbeite ich am Anfang mit Koordination, Konzentration und starte mit Bewegungsübungen. Dann nutze ich oft spielerische Elemente wie Bälle oder Bambusstöcke, um die Patient:innen mobiler zu machen. Und dann kommen wir zum Tanz oder eher Tänzchen. Ich nenne es eher so, weil man bei den Alzheimer- oder Demenzpatient:innen vorsichtig sein muss, sanft, damit sie nicht stürzen. Und dabei sprechen wir auch darüber, wie es ihnen geht, wie sie sich nach einer Stunde fühlen. Tanztherapie ist eine Form der verbalen und nicht-verbalen Kreativtherapie. Mimik, Gestik sind ebenso ganz wichtige Elemente. Und es gibt viele Ziele innerhalb der Tanztherapie. Die Stärkung der Selbstwahrnehmung, sich auszudrücken – verbal, nonverbal, sich ablenken, Reflexion, in Kontakt mit sich selbst und anderen zu kommen, sich wieder lebendig fühlen, sich freuen, eigene Kraft und Energie spüren, aber auch die eigenen Grenzen, und auch das Erkennen von Potentialen und Ressourcen. Ich nutze, was ich habe. Es gibt Patient:innen, die können Gedichte rezitieren, andere Patient:innen können ein Instrument spielen oder verstehen viel von klassischer Musik – ich lerne letztlich auch viel von ihnen

THEO: In einem Artikel habe ich letztens gelesen, dass vielen alten Menschen Berührungen fehlen. Ist das auch ein Thema? Sich an den Händen zu halten, gemeinsam zu tanzen und damit Berührung herzustellen?

Enrique Cantillo: Das ist ein ganz wichtiger Teil der Therapie. Berührung hat zu tun mit Kontakt. Und dabei geht es nicht nur um die unmittelbare Berührung. Berührung hat auch damit zu tun, wie ich jemanden anschaue, ihn betrachte, ihn wahrnehme. Natürlich berühren wir in der Therapie einander auch, aber es geht oft vielmehr darum, wie achtsam ich den Patient:innen begegne, wie interessiert ich bin …

Theresa Bauer-Hoheisel: … und der Raum der Tanztherapie ist einer, in dem das auch als angenehmer Kontakt wahrgenommen wird. Weil hier natürlich bekannt ist oder auch angenommen wird, dass es hier um Kontakt in einem angenehmen und vor allem geschützten Rahmen geht. Das ist ein wichtiger Aspekt, weil es viel mit Nähe, mit Distanz, aber auch mit Scham zu tun hat.

Enrique Cantillo: Es ist wichtig, dass die Tanztherapie ein Angebot ist und die Patient:innen entscheiden, wozu sie in der Lage sind, wozu aber eben auch nicht. Sie können auch einfach dabei sein und nur beobachten. Und wenn etwas zu viel ist, können sie auch gehen. Diese Freiheit gebe ich. Es ist kein Muss, es ist keine Leistung, es ist die Möglichkeit zu spüren, wahrzunehmen, sich auszudrücken.

THEO: Muss man eigentlich tanzen können, um von dieser Therapieform zu profitieren?

Enrique Cantillo: Nein, muss man natürlich nicht. Man muss sich bewegen können und sollte neugierig sein, sich überraschen lassen, aber natürlich braucht es keine Grundkenntnisse im Bereich Tanz. Es geht nicht darum, dass die Patient:innen jetzt Tänze lernen, sondern etwas erleben, gerade wenn der Verstand nicht mehr so arbeitet wie früher, wenn die Orientierung im Alltag verloren gegangen ist, wenn Schwermut einsetzt … Jeder der Interesse hat und motiviert ist, kann davon profitieren.

THEO: Liebe Theresa, lieber Enrique, vielen Dank, dass ihr euch die Zeit für dieses Interview genommen habt und für den Einblick in eure Arbeit. Danke vor allem für euer Engagement und das eures Teams zum Wohle unserer Patient:innen!